Montag, 28. November 2016

Jubiläumslauf in Bertlich

Zum hundersten Mal werden die Bertlicher Straßenläufe ausgetragen. Dieses Jubiläum will ich mit meinem fünfzigsten (Ultra-)Marathon koppeln. Der Blog-Titel steht auch schon fest: "Der 50. beim 100."  In letzter Minute macht die Pulsmesser-Buchhaltung (ich zähle nochmal durch) dem Plan einen Strich durch die Rechnung. Es wird schon der Einundfünfzigste.


Kurz nach dem Start schließt Marcel zu mir auf. Und es sieht so aus, als ob wir wieder als Plauder-Duo ins Ziel laufen werden. Doch da gesellt sich Matthias dazu und wandelt uns zum Trio. Ob es an der von uns in Runde Eins ausführlich dargelegten Zukunft der Elektromobilität liegt oder eher an unserer 5er Pace, ist nicht genau auszumachen. Unser Windschatten dürfte angesichts der Flaute zumindest keine Rolle spielen. Trotzdem führen wir ein kleines Fähnlein an. Auch die erste Frau hat sich unserem wilden Haufen angeschlossen. 

Aber so ist es beim Marathon. Die Truppe schmilzt dahin. Auf der zweiten der drei Runden verlieren wir auch die Siegerin in spe. Und selbst Marcel setzt sich ab. Er tut ein gutes Werk und stellt sich einem achtzehnjährigen Marathon-Debütanten erfolgreich als 3:30-Pace-Maker zur Verfügung.

Also wieder Duo. So komme ich heute doch noch zu einem Doppel-Jubiläum. Denn Matthias feiert hier gerade seinen Geburtstag. Obwohl ich mittlerweile der einzig verbliebene Party-Gast bin, ist die Stimmung sehr gut. Eine Anekdote jagt die nächste. Besonders beeindruckend ist die Geschichte vom 81-jährigen Finisher, der die Frage, warum er mit 72 Jahren seinen ersten Marathon gelaufen sei, beantwortet: „Na, weil ich erst mit 70 zu laufen anfing!

Bei einer anderen Anekdote sind wir live dabei. Der straßensperrende Polizist ruft seinem Kollegen zu: "Scheint wieder Fußball zu sein. Die Autofahrer haben alle solche Schale um den Hals." Schale? Schalen? Schals? Oder gar Schäler für die Hälser? Wir einigen uns darauf, dass sich die Fahrer heute in Schale geworfen haben.

Auf Runde Drei hält sich ein Herr in Grün längere Zeit in unserem Fahrwasser, bevor er längsseits geht: „Für mich ist das hier mein zweitschnellster jemals gelaufener Marathon. Aber wenn ich wie ihr die ganze Zeit quatschen würde, könnte ich dieses Tempo niemals halten.“ Mein Augenzwinkern übersehen offenbar beide Gesprächspartner, als ich erwidere: „Dann möchtest du also nicht mitziehen, wenn wir gleich unseren furiosen Endspurt hinlegen?“ Matthias entfährt ein entsetztes: „Was machen wir gleich!?

Obwohl es als Scherz gemeint war, sind wir plötzlich wie die Tiere, die den Stall wittern. Die Ziellinie entfaltet ihre magische Anziehungskraft. So einer Sammel-Umkleide ist ja durchaus ein gewisser Stallgeruch zu eigen. Wir stellen die Gespräche ein und überlassen den Grünen mitleidslos seinem Schicksal. Vielleicht liegt es auch am starken Harndrang, der uns beide schon seit Runde Eins plagt. Jedenfalls bekommt dieser schöne lange Tempolauf mit einer Endbeschleunigung sein I-Tüpfelchen. Aus der ursprünglich ins Auge gefassten 3:30 wird letztlich eine 3:26:10.

Solch eine locker herbeigeplauderte Zeit reicht natürlich nicht für den Altersklassenpokal. Für das Glitzerzeug ist der Junior zuständig, der zwischenzeitlich die Prämie beim 10er abgeräumt hat. Nachdem wir im Anschluß noch die medaillenbehangene Tochter aus der Schwimmhalle geholt haben, gönnen wir uns gemeinsam dieses zufriedene, reuelose Sofalümmeln, das nur nach exzessivem Sport möglich ist.

Montag, 21. November 2016

Kaiserpark Ultra

Ein Sturmtief fegt über den Westen Deutschlands. Wir fegen durch den Kaiserpark.

Hätten Svenja und Dennis John nicht zum Kaiserpark-Ultra über 45 Kilometer eingeladen, würde ich mir windgepeitschte Baumkronen und von Böen aufgewirbeltes Herbstlaub gemütlich vom Sofa aus anschauen. So aber bin ich mittendrin im Kaiserpark und in den tobenden Elementen.

Dreißig Runden durch den Park sind zu drehen! Die nächste Stufe ist Hallen-Marathon.

Laufstrecke im Morgengrauen
Dennis markiert mit erstaunlicher Beweglichkeit auf der ersten Runde die Strecke, indem er in vollem Lauf kurz in die Hocke geht und Kreidestriche zieht. Spätestens nach der fünften Runde setzt aber eine gewisse Streckenkenntnis ein, so dass vom Regen verwaschene Markierungen durchaus zu verschmerzen sind.

Ich lerne Marcel kennen, und zwar ziemlich gut. Denn als Führungsduo kommen wir etwa zur Halbzeit zu der Übereinkunft, bis zum Schluss gemeinsam zu laufen. So bleibt genügend Zeit für ausführliches Läufergespräch. Es stellt sich heraus, dass wir die gleichen Vorlieben hinsichtlich Drogenkonsum und Ernährung haben. Nun ja, mancher hätte statt "Vorlieben" vielleicht von "Einschränkungen" gesprochen. Trotzdem malen wir uns schon aus, wie wir den ganzen Nachmittag hochzufrieden auf der Couch liegen und rumfressen werden.

Zunächst begnügen wir uns jedoch mit je einem Tässchen Tee nach der 16. und der 25. Runde. Die Verpflegungsstation wurde aufgrund der Witterung in einen Parkpavillon, etwas abseits der Strecke, verlegt. Somit gilt es, Umwege zu minimieren.

Während wir dem Wind beim Verdunsten der Pfützen zusehen können, geht allmählich die "Streckenkenntnis" in ein "Jetzt habe ich aber wirklich alles gesehen" über. Und auf der letzten Runde ist die Freude groß, nie wieder den windausgesetzten Gipfelgrat ehemaligen Bahndamm, der den Park nach Osten begrenzt, erklimmen zu müssen. Immerhin haben wir auf der eigentlich flachen Strecke etwa 300 Höhenmeter gesammelt, als wir nach 3:51:59 die virtuelle Ziellinie überschreiten.

Das unsichtbare Kunstwerk im Park*
Rechtzeitig zum Mittagessen sitze ich wieder zu Hause am Tisch, prahle mit meiner umfassenden Kenntnis des Kaiserparks und lasse stolz meine Urkunde herumgehen. Doch als mein Sohn fragt, ob ich denn auch das auf dem Leistungsnachweis abgebildete Kunstwerk gesehen hätte, muss ich passen. Da werde ich wohl beim nächsten Kaiserpark-Ultra noch ein paar Runden drehen müssen.

*Foto: Wkipedia

Mittwoch, 2. November 2016

Strahlen beim Röntgenlauf

Ein Sonnenaufgang wie aus dem Bilderbuch! Die wenigen Dunstfetzen am Himmel sind in das rötliche Morgenlicht getaucht. Von den Bäumen leuchtet Blattgold, und zwischen den Hügeln hängt noch Nebel im Tal. So präsentiert sich das Bergische Land bei der Anfahrt zum 63,3 Kilometer langen Röntgenlauf.

Widersprüchliche Pläne


Am Start wärmen die Strahlen der Sonne bereits. Und auch so manches Gesicht strahlt voller Vorfreude. Meins ist ganz klar dabei. So ein phantastisches Wetter hatte ich noch bei keinem Start hier. Ich nehme mir vor, den Tag in der Natur zu genießen. Dummerweise habe ich mir noch mehr vorgenommen. Ich will heute nämlich mindestens Bestzeit (also unter 6:22), aber eigentlich sogar unter sechs Stunden laufen. Der Widerspruch fällt mir nicht auf. Noch nicht.

Dixies im Morgenlicht

Nachdem ich den letztjährigen Jubiläums-Röntgenlauf über 100 Kilometer in 10:27 beendet hatte, war ich zu der vermessenen Einschätzung gelangt, die 63 Kilometer in sechs Stunden bewältigen zu können. Ich müsste also mit einem 5:40er Schnitt ins Ziel laufen. Nur, so einfach ist das ja nicht, wenn die Strecke profiliert ist. Es gilt, auf flachen oder abfallenden Passagen den Zeitverlust an den Anstiegen rauszulaufen. Außerdem ist davon auszugehen, dass die Pace gegen Ende wohl etwas einbricht.

Lauffreude


Also laufe ich gutgelaunt munter drauflos. Es pendelt sich ein 5er Schnitt ein. Viel zu schnell, fühlt sich aber gut an. "Da lauf´ ich ein schönes Polster raus!" Sonst runzle ich weise die Stirn, wenn ich solche Formulierungen höre oder lese. Mir lasse ich den Blödsinn heute jedoch durchgehen. Noch freue ich mich am blauen Himmel und dem bunten Laub.

Nach knapp 1:45 ruft der Moderator beim Halbmarathonziel: "'Pulsmesser', mein Lieber, jetzt hast du nur noch einen Marathon vor dir! Und könnte man seinen Sonntag schöner verbringen als hier beim Röntgenlauf im Bergischen Land?" Ich jubele den nächsten Anstieg hoch. Der Lauf ist die pure Freude.

Virtuelle Fotos


Das Wetter sorgt für geniale Fotomotive. Nur habe ich wegen des selbstauferlegten Zeitziels keine Muße zum Knippsen. So mache ich ein paar virtuelle Kopf-Fotos. "Rostlaub" nenne ich das Foto unter der Müngstener Brücke, deren oxidierte Träger farblich mit den sonnenbeschienenen Bäumen am anderen Ufer korrespondieren. Auch der "Elefantenmensch" wird innerlich abgelichtet. Aus unerfindlichen Gründen hat sich einer der Zuschauer einen riesigen Plüsch-Elefantenkopf über seinen eigenen Schädel gestülpt.
Startaufstellung Röntgenlauf 2016

Später stosse ich auf die führende Marathonfrau, die scheinbar in 3:30 finishen will. Jedenfalls sind wir längere Zeit im gleichen Bereich unterwegs, bis sie irgendwann zurückfällt. Und auch ich beginne Federn zu lassen. Sah es bei der halben Distanz noch nach einem theoretischen Finish in fünf Stunden vierzig aus, so wird es ab Kilometer 37 ziemlich schwer. Für den zweiten Halbmarathon brauche ich dann schon fast zwei Stunden. Es bleiben also noch zwei Stunden und 15 Minuten für den dritten und letzten Halbmarathon. Klingt machbar, wird aber schwer werden.

Und dann musst du halt zu Ende laufen


"Da habe ich mich vom Bestzeitenzwang auf der Marathonstrecke frei gemacht. Und nun fange ich den Quatsch beim Ultra an!", hadere ich mit meiner Vorgabe. Andererseits hilft so ein Ziel doch ungemein, um sich immer wieder am Riemen zu reißen.

Mein Riemen ist aber runter. Die hinteren Oberschenkel schmerzen bis ins Gesäß. Muss wohl zu wenig Beinkrafttraining gewesen sein. Am VP bei etwa Kilometer 47 muss ich gehen! Während dieser rund 100 Geh-Meter esse ich genüsslich einen dieser köstlichen Müsliriegel der Sponsoren-Bäckerei. Und in dieser Erholungsphase dringt die Erkenntnis zu mir durch: das ist jetzt nur eine Krise, die geht wieder vorbei! Allein schon diese Einsicht bringt den Durchbruch. Ich trabe wieder an. Michiel, der schweizer Ironman, der heute seinen ersten Ultra läuft, und mich ein Stück begleitet (bevor er am Horizont entschwindet), wird es im Ziel so zusammenfassen: "Bis Marathon war es gut. Und dann musst du halt zu Ende laufen."

Die sechs Stunden sind weg


Mit dem Genuss ist es jetzt also definitiv vorbei. Die Reserve auf die sechs Stunden wird knapper und knapper. Ich mag gar nicht mehr auf die Uhr schauen. Die Pace steigt unaufhörlich. 5:30, 5:35, 5:37. Und dann das Unvermeidliche: 5:40, 5:41, 5:42. Die sechs Stunden sind weg!

Ich tröste mich eine Weile mit der neuen Bestzeit. Dann fällt mir ein, dass mich beim Wupperbergemarathon die GPS-Messung genarrt und mir eine zu langsame Geschwindigkeit vorgegaukelt hatte. Und auch hier habe ich an den Kilometer-Markierungen jeweils eine etwas geringere Strecke auf der Uhr. Ich schöpfe neuen Mut.

Licht und Schatten beim Röntgenlauf
Das 60-Kilometer-Schild bringt nach etwas Kopfrechenarbeit die Gewissheit. "Es klappt! Es klappt!", wird zu meinem Mantra, mit dem ich mich vorantreibe. Dass mich einen Kilometer vorm Ziel noch die führende Frau überholt, muss ich hinnehmen. Ich will heute ja nicht Siegerin werden, ich will die sechs Stunden knacken! Zum Glück kenne ich den Rest der Strecke und freue mich paradoxerweise auf den letzten Anstieg. Einfach, weil er definitiv der letzte ist, und unmittelbar danach (jedenfalls relativ zur Gesamtdistanz) das Ziel liegt.

Tja, und dann bin ich drin. 5:57:08. Kein Freudentaumel, kein Endorphinrausch, keine Tränen. Aufgabe erfüllt. Erledigt!

Erst beim Gang zur Sporthalle kommt das Glück zu mir. "Grus, grus", ertönt der typische Ruf. Zwei Kranich-Schwärme kreisen am blauen Himmel. Die Vögel des Glücks. Den Kopf im Nacken bleibe ich stehen, bis mir kalt wird.